Das Axelrod-Experiment
Eines der Modeworte unserer Zeit ist Strategie. Unternehmen suchen nach ihren Erfolgsstrategien. Aufsteiger suchen nach ihrer Karrierestrategie. Parteien entwickeln ihre Wahlstrategie. Das Wort Strategie kommt aus der Sprache der Kriege. Bei der Frage nach der Strategie geht es um die Frage: Wie kann ich den Gegner besser besiegen?
Ist die richtige Strategie dafür entscheidend, ob das Leben gelingt, oder geht es doch um mehr? Eher um die richtige Lebensphilosophie und die richtigen Werte?
Kann man gegen raffinierte Strategien mit starken Werten und einer starken Philosophie überhaupt ankommen? Lohnt es sich Werte zu haben, oder ist dieses in unserer Welt blauäugiges „Geschwätz“ von Moralpredigern und Werteaposteln? Gibt es auch zu dieser Frage eine Antwort, die nicht auf Morallehren gründet und nicht auf hehren Erziehungsleitsätzen?
Ja, es gibt sie! Das ist das viel zu wenig bekannte Axelrod-Experiment. Seit den 50er Jahren gibt es die sogenannte Spieltheorie. Begründet von John Neumann und Oskar Morgenstern.
Die beiden Begründer leben nicht mehr, aber drei Wissenschaftler, die die Spieltheorie weiterentwickelt haben, wurden vor zwei Jahren mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Darunter als erster Deutscher Reinhard Selten, Bonn.
Die Spieltheorie stellt die Frage: Welche Verhaltensweisen sind erfolgreicher? Welche zahlen sich besser aus?
Im Rahmen der Entwicklung der Spieltheorie hat im Jahre 1979 ein amerikanischer Politik-Wissenschaftler namens Robert Axelrod ein hochinteressantes Experiment durchgeführt. Er hat unter Spieltheoretikern ein Turnier von Computerprogrammen ausgeschrieben, wer wohl die erfolgreichste Strategie findet, die sich am besten auszahlt. Alles war möglich. Raffinierte Spielstrategien, offene oder solche, bei denen die Karten nicht offengelegt wurden. Es gab nur ein Ziel: Auszahlungserfolg.
15 Programme mit jeweils unterschiedlichen Strategien traten in der ersten Runde gegeneinander an. Einer der Teilnehmer war der Mathematiker und Systemtheoretiker Anatol Rapoport aus Toronto. Er hatte das kürzeste und simpelste Programm geschrieben und nannte es „Tit for Tat“. Das Programm hatte vier Regeln:
1. Ich spiele offen. Ich habe keine geheimen Regeln in der Hinterhand.
2. Ich spiele immer auf Kooperation, suche Zusammenarbeit und die gemeinsame Optimierung des Nutzens.
3. Wenn mich einer, weil ich „so nett“ spiele, ausnutzen will, schlage ich unverzüglich zurück.
4. Aber ich bin nicht nachtragend. Schon in der nächsten Runde spiele ich wieder auf Kooperation.
Ich bin also rasch im Vergelten und rasch im Vergeben. Die Runde wurde gespielt, Anatol Rapoport hatte die größte Auszahlung. Das war eine Überraschung. Axelrod veröffentlichte die Analyse dieses Spiels und lud zu einem zweiten Turnier ein.
Die Zahl der Teilnehmer wuchs. Diesmal wollten auch Wirtschaftswissenschaftler, Mathematiker, Ingenieure, Biologen und Computerfreaks mitmachen. Es traten 26 Programme gegeneinander an. Anatol Rapoport gewann auch das zweite Turnier. Daraufhin entwarf Axelrod eine neue Turniervariante. Er unterwarf die einzelnen Programme einem evolutionären Selektionsprozess. Er simulierte die Wirkung einer natürlichen Auslese in seinem Computer. Die erfolgreicheren Programmvarianten konnten sich stärker vermehren. Die erfolgloseren starben aus. Jetzt setzte sich Rapoports „Tit for Tat“-Strategie sofort an die Spitze und baute ihren Vorsprung aus. Besonders interessant dabei war, dass die Strategien, die auf die rücksichtslose Ausbeutung der Schwächeren setzten, sich anfangs vielversprechend vermehrten, dann aber untergingen. Ausbeutung brachte also kurzfristige Erfolge. Langfristige nicht.
Dieses Axelrod-Experiment kann gar nicht genug bekannt gemacht werden. Es müsste Bestandteil des Schulunterrichts sein, jeder Gemeinschaftskunde und jedes Religionsunterrichts. Das Ergebnis ist dramatischer, als jede Moralpredigt sein kann: Die beste Strategie im Leben heißt: Offen spielen, Zusammenarbeit suchen, kooperativ arbeiten, den gemeinsamen Nutzen fördern. Dies aber gepaart mit dem Signal, dass Kooperation nicht Schwäche ist und dass man jemanden, der so „gutmütig“ spielt, nicht aufs Kreuzlegen kann.
Axelrod selbst schreibt in seiner Ergebnisanalyse den Satz: „Sogar Strategie-Experten aus den politischen Wissenschaften der Soziologie, Ökonomie, Psychologie und Mathematik machten systematisch die Fehler, zu wenig kooperativ für ihren eigenen Vorteil zu sein, zu wenig zu geben und zu pessimistisch hinsichtlich der Reaktionsmöglichkeiten der anderen Seite zu sein.“ Ich bin überzeugt: Die Wertedebatte kann und muss auf einer neuen system-theoretisch naturwissenschaftlichen Ebene geführt werden. Es gibt begründbare Werte, die jenseits aller intellektuellen Beliebigkeit stehen, wie sie das Gedeihen des Lebens in Fülle und Vielfalt fördern.
Quelle:
Lübecker Nachrichten 3./4. Oktober 1997
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